Leseprobe
Keine Joker-Figur!
Beobachtungen zu Waldemar Ottos »Demonstranten«
Die Werkgruppe »Demonstranten« ist die konsequente
bildhauerische Weiterentwicklung eines Denkmalsent-
wurfs. Am Anfang stand der gescheiterte internationale
Wettbewerb für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal auf dem Sockel
des zerstörten Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I. gegenüber
dem neu aufzubauenden Berliner Schloss. Für diesen Wettbewerb
ent-wickelte Waldemar Otto zusammen mit dem Architektenbüro
Peter und Jacob Lehrecke aus Berlin ein Konzept, das einen
großen gemauerten Bogen als Einheitssymbol mit einem
ausführlichen skulpturalen Bildprogramm verbinden sollte. Die
verschiedenen plastischen Szenarien sollten von figürlichen
Bildhauern aus allen Teilen Deutschlands ausgeführt werden, was
den Einheitscharakter des Denkmals unterstrichen hätte. Ottos
eigene Figuren, die aus dem großen Bildprogramm herausgelöst
wurden, sind auf den ersten Blick künstlerische Beispiele für
diese Aufgabe.
Bei näherer Betrachtung erweisen sich die einzelnen Plastiken
aber auch als bildhauerische Statements, in denen auf selten
explizite Weise formuliert wird, was ein Denkmal heute leisten
kann. Es sind keine bloßen autonomen Kunstwerke, sondern jeweils
Träger einer bestimmten Programmatik.
Denkmäler gehören zu den problematischen Herausforderungen
innerhalb der zeitgenössischen Kunst. Es gibt historische
Beispiele, die aus einem bestimmten Kontext heraus entstanden
sind und sich unserem kulturellen Gedächtnis eingeprägt haben.
Diese dominieren das Denken und bestimmen die vorherrschenden
Illusionen, wenn es darum geht, neue Denkmäler zu schaffen. Wer
diesen Mechanismus untersucht, entdeckt ein prinzipielles
Problem, das leider nur von wenigen Künstlern (und Politikern)
erkannt und verstanden wird.
Erhaltene Denkmäler sind nicht bloße Dokumente einer fernen
Epoche. Es können durchaus Kunstwerke sein, die über ihr Dasein,
ihr Aussehen und ihren Inhalt hier und jetzt Bedeutung bekommen.
Aber in der Praxis werden sie auf ihren schönen historischen
Schein reduziert, woraus sich im nächsten Schritt erklären
lässt, warum manche glauben, zeitgenössische Denkmäler müssten
möglichst zeitgenössisch sein. Diesen Mechanismus bewusst zu
durchbrechen, wäre die eigentliche Aufgabe für das geplante
Freiheits- und Einheitsdenkmal. Nicht bloß in der Zukunft an
(den Kunstbetrieb von) 200g zu erinnern, sondern in einem
zukünftigen Hier und Heute der friedlichen Revolution von 1989
und 1990 zu gedenken. Und das Besondere dieser Revolution waren
die Menschen. [...]
Arie Hartog
Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses, Bremen
Ausgangspunkt für die »Demonstranten« war der Wettbewerb für ein
Freiheits- und Einheitsdenkmal vor dem Berliner Schloß. Das
Thema und die Aufgabenstellung hatten mich so fasziniert, daß
ich davon nicht loskommen konnte und daran weiterarbeitete,
obwohl der Wettbewerb gescheitert war. So entstand diese ganz
autonome Werkgruppe.
Ursprungsort und Herz der friedlichen Revolution war bekanntlich
die Leipziger Nikolaikirche. Die Friedensgebete mit den
Kerzendemonstrationen und die Parole »Keine Gewalt« prägten die
Freiheitsbewegung und verhalfen ihr letztlich zum Erfolg. Erich
Loests »Nikolaikirche« legt davon Zeugnis ab.
Die »große Erzählung« von der Freiheits- und Einheitsbewegung
findet hier also ihren Ort und ihre bildhafte Darstellbarkeit.
Die Unverwechselbarkeit der Kirchenarchitektur als Flachrelief
mit Ritzzeichnungen und die sich herauslösenden halb- und
vollplastischen Partien ergeben in ihrer Tiefenstaffelung ein
Szenarium, das die inhaltlichen Elemente der Situation und des
Themas lesbar macht. Ihre skulpturale Ausprägung verdankt die
Werkgruppe »Demonstranten« also dem formalen Kanon des
Szenariums, das in dieser flächigen Gestaltung und gedrängten
Staffelung in meinem Oeuvre bisher nicht vorkommt.
Waldemar Otto, 2009 |