:
|
Halle war im Mittelalter
Handelsplatz fürs Salz. Hier verkehrten reiche Kaufleute aus dem fernen
Spanien, aus Arabien, dem Orient, diese Straße benutzten auch
Schausteller, Gauner und fahrendes Volk. Ihr fremder Habitus vermischte
sich mit der Bevölkerung. Sie vererbten ihre schwarzen Locken, ihre
auffallend schwarzen Augen und ihre empfindliche weiße Haut.
Heute noch – zwar selten – taucht nach vielen Generationen bei
alteingesessenen Hallensern dieser Typ wieder auf.
Herbert Kitzel hatte die Augen, diese Haare, diese Haut. Er war
mittelgroß, sprach unverkennbar Hallesch mit einem leichten Lispeln.
Sein Lächeln erinnerte an das eines Clowns oder an das eines Fauns; es
war spöttisch, melancho- lisch, hintergründig. Nahe beim Rannischen
Platz war er mit seinen vier Geschwistern aufgewachsen; dieser
Stadtteil, Glaucha genannt, war grau, da wohnten keine wohlhabenden
Leute. Die Eltern waren zeitig geschieden, das Kind Herbert bekam eine
dünne Haut, die blieb dem Herangewachsenen, eine gute Voraussetzung
für die Kunst, aber schlecht fürs Leben.
Als wir Herbert Kitzel kennenlernten, wohnte er mit seiner Frau Mareile
und mit anderen Künstlern in einer großbürger- lichen, etwas
ramponierten ehemaligen Fabrikantenvilla, die seltsam über den niedrigen
Fischerhäuschen der Talstraße thronte. Man traf sich bei Kitzels im
geräumigen Atelier – es wurde Kunst angeschaut, Musik gehört und
gezeichnet. Kitzels waren uns trotz aller Vertrautheit überlegen, wir
hörten ihre Meinungen wie die von Lehrern. Mareile war klug und
belesen, von Herbert ging, wie von genialen Menschen eben, eine
Faszination aus, der man sich nicht entziehen mochte. Er war im Grunde
genommen ein einfacher Mensch, sehr emotional, er konnte sehr witzig
sein. Natürlich war er egozentrisch, sehr fordernd. Mareile war ihm
eine gute Gefährtin, sie später in Karlsruhe ihre eigene
künstlerische Arbeit seinetwegen aufgab.
Herbert Kitzel schuf hier seine Bilderwelt: die arkadischen
Landschaften, Bilder von Artisten, von Gauklern, von Harle- kinen, von
Jazzmusikern.
Er war unerhört fleißig, bei jede Besuch konnten wir die neu
entstandenen Zeichnungen bestaunen. Trotz der Melan- cholie, die die
meisten Bilder ausstrahlten, war es doch eine bunte Welt, voller
Allegorien, eine etwas künstliche Welt, erdacht, nicht erlebt. Der
Tod erscheint in den halleschen Bildern noch romantisch verklärt, es
wird dann später in Karlsruhe zur existenziellen Bedrängnis zur
Heimsuchung.
Herbert Kitzels Bilder hatten mit dem offiziell erwünschten
sozialistischen Realismus nicht das geringste zu tun, man konnte aber
nicht übersehen, daß Kitzel ein sehr begabter Maler war, der auch
schon Beachtung im Westen Deutsch- lands fand: er zeigte seine Bilder in
der großen Kunstausstellung in München, in Mannheim und in den
Ausstellungen des Künstlerbundes.
Im Juli 1957 erhielt er eine Berufung an die Akademie in Karlsruhe. Das
war natürlich ein tolles Angebot für einen jun- gen Maler! Aber
Karlsruhe lag in der Bundesrepublik, das Ministerium für Kultur der DDR
mußte die Ausreise genehmi- gen – es zog die Bearbeitung so in die
Länge, daß es fast unglaublich scheint, daß man in Karlsruhe nicht
die Geduld verlor uns sich einen anderen Lehrer suchte.
Das Wort "Klassenfeind" klingt heute lächerlich – als
solcher zu gelten, war damals gefährlich. Einen Antrag auf Aus- reise
aus der DDR zu stellen, war zumindest suspekt. Es gibt einen geradezu
rührenden Satz in einem Briefentwurf von Kitzel an das Ministerium, er
schreibt da: "ich bin der Meinung, daß eine menschlich anständige
saubere künst- lerische Arbeit auch in Karlsruhe zur Verständigung der
Menschen miteinander beitragen kann". Das war eine Art Rechtfertigung, Kitzel hoffte, sie könne überzeugen.
Die dringende Bitte, um endliche Klärung, die Kitzel anläßlich einer
Verbandsversammlung an einen hohen Funktionär richtete, wurde in
gefahrdrohender Weise und eindeutig abschlägig beantwortet.
In Herbert Kitzels Biographie liest man das Wort
"Übersiedlung": 1958 Übersiedlung nach Karlsruhe. Es war
keine Übersiedlung, es war eine überstürzte Flucht, nicht von einem
zum anderen Tag, sondern vom Abend - wo der unheil- verkündende Satz
ausgesprochen worden war – bis zur Mitternacht: da fuhren Kitzels mit
dem schnell zusammenge- suchten Allernötigsten und mit dem Taxi zum
Bahnhof, mit dem Zug nach Berlin und von dort mit dem Flugzeug nach
Karlsruhe. Republikflucht hieß das. Kitzels waren also abgehauen.
Die Zeit macht Vergangenes unschärfer. Dem gewesenen DDR-Bürger fährt
noch der Schreck in die Glieder, dem Bundesbürger muß es
schwerfallen, die Konsequenzen zu begreifen, die dieser Schritt nach
sich zog. Herbert Kitzel mußte seine heimatlichen Wurzeln
herausreißen, sich auf Nimmerwiedersehen von Familie und Freunden
trennen, sein Werk zurücklassen. Die Tür war zugeschlagen. Karlsruhe
war fürs erste eine Art deutschsprachiges Exil.
Der Wechsel in eine Welt ohne Grenzen, ohne einengende ideologische
Vorgaben war für Kitzel unumgänglich, not- wendig. Halle hatte ihm
eine Art Nische geboten mit scheinbarer Geborgenheit und mit der
Akzeptanz durch Gleichge- sinnte. Aber er hätte sich da nicht in der
ihm gemäßen Art entwickeln können, er war ja kompromißlos,
unangepaßt, besessen von seinen Bildvisionen, und er brauchte die
Reibung mit der Weltkunst. Es Wechsel – ja – aber nicht diese verletzenden Umstände.
Ich versuche mir vorzustellen, was Kitzels in Karlsruhe vorfanden:
welche Erwartungshaltung gab es an den Lehrer, an den Künstler, an den
Menschen?
Wie war die Akzeptanz für Kunst, die Herbert Kitzel in Halle geschaffen
hatte? Welche Kunstströmungen waren im Westen gerade "in",
würden sie Kitzel verführen, ihn aus seiner Bahn werfen?
Briefe aus Karlsruhe berichteten uns, wie freundlich die Aufnahme dort
war. Allmählich bildete sich ein neuer Freundes- kreis, der Maler
erfuhr Anerkennung, seine eigenwillige Sprache überzeugte, er erhielt
den Darmstädter Kunstpreis, seine Ausstellungen waren erfolgreich,
die Schüler akzeptierten ihn.
Bei aller musischen Veranlagung hatte Kitzel großen Spaß an
Technischem. Bald besaß er eine Musikanlage bester Qualität,
natürlich hatte er eine Videokamera, er fuhr mit Begeisterung ein
schnelles Auto und genoß den Rausch der gefährlichen Geschwindigkeit.
Er reiste nach Italien, nach Spanien. Er stand, wie man so sagt, mit
beiden Beinen im Leben und genoß, was es ihm zu bieten hatte.
Woher aber kommen so bald die Bilder voller düsterer Visionen? Was
zwingt ihn, diese beunruhigenden Metaphern des Leidens und der
Verzweiflung, der Einsamkeit und des Ausgeliefertseins zu gestalten?
Herbert Kitzel verläßt seine freundliche Bilderwelt und schafft eine
andere, bedrohliche. Man sieht: jetzt wird es ernst. Die gestürzten
Liegenden – da hält keiner mehr die Hand an die Wange – Bestien
reißen ihre Mäuler auf, der Zerberus fletscht seine Zähne,
Stürzende, immer wieder Stürzende, ganze Gruppen stürzen ins
Ungewisse, verzweifelt inein- ander verkrallte Paare, Menschen, einzeln
und zu zweit in Käfigen, Tiere in Käfigen, der geschundene gekreuzigte
Mensch, der nach Erlösung geradezu schreit – das sind jetzt seine
Themen. Die Dummies, sollten ihre Helme Schutz bieten? Aber vergebliche
Hoffnung auf Sicherheit, der Helm schützt einen Totenschädel.
Kitzel ist ein begnadeter Maler und Zeichner von höchster Sensibilität
im Umgang mit Farbe und Linie. Man könnte viele seiner Bilder schwer
ertragen, wenn es nicht so großartige Kunstwerke wären. Ich bin
ergriffen von der Bildaus- sage, aber mich fasziniert deren künstlerische
Umsetzung.
Mich beeindrucken die späten Landschaften von der spanischen Küste
ganz besonders. Man fühlt sich einer Ödnis aus- geliefert; man sieht
Gegenstände, tote Tiere, hingeworfen, übriggeblieben wie Strandgut,
nur vom Maler absichts- voll hinzugeordnet. Meine Vorstellung von dieser
kargen Urlaubsecke mußte ich revidieren. Ich konnte ein Video sehen,
eines von den vielen, die Herbert aufgenommen hatte. Kitzels lebten dort
recht idyllisch in einem Häuschen mit Swim- mingpool, man sah Mareile
wieder und wieder ins kühle Naß springen, schwimmen, sich erfrischen.
Eine üppige Vege- tation ließ die Früchte fast bis auf den Tisch
wachsen. Was für ein Gegensatz zur öden gemalten Landschaft! Aber
Herberts Kamera fand auch hier ihm Gemäßes: er suchte sich die Köpfe
der Geckos aus, vorsintflutlich in ihren lang- samen Bewegungen, wie sie
träge nach Fliegen schnappten, das Echsenauge starr auf das Opfer
gerichtet, oder man sah in Großaufnahme das Auge des toten Fisches,
faszinierend eindringlich, als wäre es Teil von einem seiner Bilder.
Kitzel machte wunderbare Keramiken. Dieses sinnliche Material mußte ihn
faszinieren. Er bemalt die Oberfläche von Gefäßen, er knetet auch
selbst plastische Details oder die ungewöhnlichen Stilleben auf
hochbeinigen Tischchen. Er nimmt die Arbeit mit der Keramik sehr ernst,
durch intensives Probieren mit Farben und Glasuren entdeckt er deren
Schmelz und Leuchtkraft, die unvergleichlich intensiver sind als die von
Ölfarbe oder Acryl auf Leinwand. Es muß ihm Freude gemacht haben,
seine Bildthemen – scheinbar nebenbei – noch auf einem anderen
Medium zu zeigen, die Bild- aussage wird gemildert durch die Umsetzung
ins Material und durch die Funktionalität des Trägers: Das
Echsenuntier ist aus Erde und wirkt nicht so bedrohlich, weil man mit
ihm die Dose öffnen kann und vielleicht einen realen Inhalt findet und
nicht den abstrakten Gehalt eines Bildes.
Diese Keramiken sind ganz einzigartig. Sie sind leider nicht genügend
bekannt, eigentlich müßten sie in ihrer Gesamt- heit in der
Majolikamanufaktur in Karlsruhe stehen.
Herbert Kitzel war ein besessener Mensch, den die Arbeit und das Leben
quasi verbrannte. Der Schlaflosigkeit suchte er durch Tabletten Herr zu
werden. Der Teufelskreis begann. Wie weit die Abhängigkeit von
Schlafmitteln und Alkohol seine Visionen nachgerade unerträglich
machten, kann man nur ahnen.
Als es ihm gelang, seinem Leben ein Ende zu setzen, waren seit seinem
Weggang von Halle 20 Jahre vergangen...
|