Leseprobe - aus dem Textbeitrag
- Jörg Sperling: Malfährten
(...)
Kerstin Seltmann bedeutet jenes Anreißen, das In-Fluss-Bringen etwas sehr
Wesentliches, ja Unabdingbares. Häufig entfaltet sich in der Bildarbeit ein
serielles Prinzip. Für die Künstlerin besitzt es geradezu Notwendig-
keit, den
Bildgegenstand in Variationen zu umkreisen, in Folgen aufzufächern, in Reihungen
größere Intensität
zu schaffen. Überhaupt entpuppen sich die Seltmannschen
Malereien als gegenläufige Schichtenwesen. Das organoide Binnengewebe formt sich
aus und wird wieder zurückgenommen: Verbergen und Entbergen gehen in eins. So
operiert sie nie mit letzten Formgewissheiten, sondern lässt dem Bild sich eigne
Geheimnisträger-
schaft entwickeln. Und im Über- und Ineinander des Farbenganges
schälen sich die Bilddinge allmählich, mal mühsam, mal lustvoll heraus.
Die Künstlerin liebt das alchemistische Hantieren mit Pigmenten, Tinkturen,
Malmittel, Öl, Sand und anderen Beimischungen. Auf der Leinwand entfaltet sich
Malereibiotope, die unendlich viele Facetten gebären: von lokalfarbener
Klaviatur bis zum bröckelnden Verputz, vom tünchigen Auftrag bis zum
ölgesättigten Tiefen-
leuchten. Einmontierte Teile erfahren Übermalung und
Farbflächen werden durch lineare oder Schriftelemente kommentiert, weiter
geformt. Das Auge verliert sich in Übergängen und wird von reliefartigen Partien
wieder aufgerüttelt, folgt den Gestaltansätzen und dringt vor ins Bildwesen.
<Futtermais> lautet der Titel einer hochformatigen Komposition von 2003. Die
Malfläche, wie in der Draufsicht auf eine Tischplatte ausgespannt, beherbergt
nicht das, was wir bekanntermaßen erwarten würden. Nein, die Früchte des
Landlebens - Kerstin Seltmann wohnt richtig j. w. d. - sind, wie unter die Lupe
genommen. Die Einzelkörner prägen sich groß und plastisch auf der Weißfläche ab.
Geradeso, als wäre Malerei ein Sonderzweig der Pflanzenkunde. Richtig: Denn die
Künstlerin gibt Malkunde von einer Frucht, deren Vertreter wir nur im
genussvollen Verzehr kennen. Sie aber forscht der Kornbildung nach, wie sich in
solch einem Ding der Keim versteckt. Der Mais als malerischer Vorfall und nicht,
wie eigentlich üblich als klischeehaftes Gelborange. Die Farbe war für sie
einfach nicht zu malen,
sagt sie, damit habe sie sich gequält. Und ist dem
Banalbild gut entkommen, hin zu Formen, die uns Betrachtern wunderbar aufgehen
können. |