Die Malerin Seltmann liebt das Spiel mit Bedeutungen. Wenn sie
hier ihre Arbeiten unter den Titel »Tierisch ländlich« stellt,
dann ist das ironisch und ernst zugleich gemeint, weil es sich
in mehrfacher Hinsicht auf ihre Arbeitsexistenz auf einem Dorf
bezieht, und die nun einmal viel mit der dortigen Fauna zu tun.
Es geht also um Kemlitz bei Baruth, aber es geht auch – davon
ausgehend und weit darüber hinausgehend - um ganz grundsätzliche
Fragen der Existenz, die sich bei Kerstin Seltmann mit ihren
Bildmotive verbinden – als Probleme einer reflektierten
Künstlerexistenz, die eigentlich bei jedem Thema mitbehandelt
werden.
Den Ausgangspunkt der Werke aber bilden immer genaue
Beobachtungen: Das können banale Dinge sein, die zu einer
Gestaltungsaufgabe werden; nicht, um sie ›abzubilden‹, sondern
um sie der eigenen Bildwelt einzuverleiben, sie umzuformen nach
den Prämissen der spezifisch Seltmannschen Bildlichkeit.
Dazu gehört die konsequente Vermeidung alles Konfliktarmen, zu
Einfachen und zu ›Schönen‹ – schnelle Effekte haben sie nie
interessiert.
Stattdessen beginnt in der Auseinandersetzung mit der Form im
Zeichnen wie im Malen stets ein wirklich schöpferischer Prozeß,
ein Bild-Abenteuer, das auch assoziativen Eingebungen gegenüber
offen ist. Nicht eben oft bleibt das Ausgangsmotiv zum Schluß
noch sichtbar, meistens überdeckt von einer Vielzahl von
Malschichten und immer transformiert.
Kerstin Seltmann eine von der Kunstarbeit, von Malen und
Zeichnen Besessene, und das ist ein Glück für uns.
Die Bildtitel oder auch die schriftlichen Hinweise auf den
Blättern und Leinwänden transportieren häufig die inhaltlichen
Weiterungen mit: »Kröte ›oder«, so ist präzise ein Tier
übertitelt, das sich auf orangenem Grund entfaltet und das eher
an einen Gregor Samsa oder an weitaus gefährlichere Mischwesen
denken lässt als an einen harmlosen Lurch. Auch die »Große
Krähe« hat sich von ihrem Urbild gelöst und sich in eine
vielschichtige, an Masken erinnernde Form inmitten dramatischen
Rots verwandelt.
Seit langem schon spielt die Wahrnehmung von Tieren und das
Interesse an ihren Formen und Bewegungen eine große Rolle in
ihrem Werk. Ausgelöst wurde dies paradoxerweise durch ihre
Stillstellung: Es waren vielfach tote Tiere, die ihr Interesse
weckten - Schwäne am Ostseestrand (noch lange vor H5N1!), die
Opfer der Krötenwanderungen auf der Dorfstraße, eine Wespe im
Atelier oder zum Verzehr zubereitete Fische. »Natur mort«, tote
Natur – so heißt im Französischen, was bei uns als ›Stilleben‹ bezeichnet wird: Es entwickelt im Bild ein Eigenleben, quasi
eine neue Existenz. Die Kreaturen entfalten Potenzen, die
komisch und bedrohlich zugleich sein können. Andere, wie die
Kühe bzw. Ziegen scheinen hingegen von einer Chagallhaften
Leichtigkeit, und sind doch auf eine fast mediterrane Art in
ihrem Wesen erfasst. Bei so viel Bildpoesie kann man darauf
warten, dass die Malerin sie wenigstens per Bildtitel wieder
erdet: »Landwirtschaft« heißt das dann ziemlich nüchtern.
Zuweilen tritt die symbolisch anwesende Künstlerin auch sichtbar
mit hinein in das Bild, sichtbar in Fragmenten des Gesichts oder
eines blickendes Auges. Es ist immer noch die von Gottfried
Boehm als Signum des Selbstporträts erkannte »Überpräsenz des
Blicks«, die in der Kunstgeschichte stets auf den Künstler
selbst zurückwies.
Für Kerstin Seltmann ist dies freilich keine Hürde: Das
Selbstbildnis ist auch für sie schon lange nicht mehr an
wiedererkennbare Ähnlichkeiten geknüpft – was aber nicht heißt,
dass Ähnlichkeiten nicht vorkämen: Fragmentierte Ausschnitte des
Gesichts wie in der großformatigen Arbeit »Daselbst«, lange Zeit
auch das Herz als hochsymbolisches Hohlorgan, das noch in
»Daselbst« die heimliche Mitte bildet, konnten auch allein für
eine ›porträtierte‹ Person, genauer gesagt meistens für das ›Selbstbildnis‹ stehen.
In Seltmanns Werk lässt sich seit langem eine gewisse organische
Entwicklung beobachten: Nach einer Phase farbstarker und
kontrastreicher Formkonzentrate in der Mitte ihrer Bilder zeigen
die Arbeiten der letzten Monate ein Aufbrechen dieser ins
Kubische tendierenden ›Verschachtelungen‹ . Zunehmend rücken
Landschaften, in denen sich Seltmann aufhält, ins engere
Blickfeld und werden zum Bildgegenstand. Sie zeigen ein neues
Verströmen in den Bildraum hinein. Der Weg hierhin wird sehr
deutlich bei den hier vertretenen Kemlitzer Landschaften. Das
ist einmal der in Blautönen gehaltene Kemlitzer Dorfteich, der
noch aus der alten, mittigen Bildstruktur heraus entwickelt ist,
an den Rändern aber ausgreift. Die winterliche Landschaft mit
der Fledermaus-Reihe markiert hingegen eine veränderte
Raumauffassung, die trotz aller Tiefe in die Fläche konzipiert
ist.
Auch die kleinformatigen Serien wie die Reiseserie aus dem
englischen »Withby« oder das Kemlitzer Pendant verbinden genau
Beobachtetes mit Imaginiertem zu einem hintergründigem Realismus
Seltmannscher Art.
Trotz aller partiellen Verdüsterungen, die besonders häufig bei
den Winterbildern zu finden sind, und trotz mancher kleiner
Bösartigkeiten - vor allem bei den ›Menschenbildern‹ - strahlen
die Arbeiten Kerstin Seltmanns doch eine besondere Wärme und
eine große Sympathie für alle ihre ländlichen Wesen aus. Das
vermittelt die – trotz aller Strenge - doch kostbar-üppige
Farbigkeit, aber eben auch an einer konstruktiven
Grundeinstellung ihren Gegenständen gegenüber, seien es
Insekten, Hunde, Kröten, Ausblicke auf Schienenbusse oder auch
nur den vorbeigehenden Nachbarn. Auch simple Malgründe wie ein
Faltplan erhalten durch ihre Übermalung ein ganz neues Leben,
sie werden zu kostbar leuchtenden Gebilden mit einer imaginären
Topographie.
Wer sich auf die Bilder einlässt und diesen Pfaden der Kunst
folgt, kann reich belohnt werden: Mit dem Weiterwirken der
Bilder, ihrem Nachleuchten, das auch unseren Blick schärfen und
erhellen kann.
Berlin, im März 2006 |