Leseprobe
Fritz Jacobi: KARGHEIT UND DRAMATIK
Zum Werk von René Graetz
Es muß Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, als die Bildhauer
des Verbandes Bildender Künstler in den Räumen der Alten
Nationalgalerie eine Besprechung abhielten. Es ging um die
Vorbereitung einer Ausstellung, und René Graetz, mit langem
Schal um den Hals, sprach mit leicht französischem Akzent
überraschend von Paris und Constantin Brancusi, der einmal nur
eine einzige Figur, seinen berühmten »Hahn«, in einen Saal
gestellt habe, was großes Aufsehen erregte und viele Besucher
angelockt habe. Einige der Anwesenden waren etwas irritiert; das
von Graetz heraufbeschworene Bild kam in seiner Klarheit und
Stringenz wie aus einer anderen Welt. Gerade deshalb ist es mir
wohl in Erinnerung geblieben und verbindet sich für mich bis
heute mit seiner Persönlichkeit und damit auch mit seinem Werk.
Dieses kurze Statement, das ich erlebt hatte, deutete zugleich
das ganze Spannungsfeld an, in das sich Graetz, der Bildhauer
und Graphiker, Maler und Keramiker, gestellt sah. 1908 in Berlin
geboren, aber in Genf aufgewachsen und zum Drucker ausgebildet,
hat René Graetz längere Jahre, von 1929 bis 1938, in Kapstadt
als Drucker gelebt und gearbeitet und sich dort der
künstlerischen Tätigkeit zugewandt. 1938 kehrte er nach Europa,
nach Paris, zurück, emigrierte aber kurz darauf wegen seiner
antifaschistischen Haltung nach London. Für ein Jahr wurde er
bei Kriegseintritt Englands in ein Internierungslager in Kanada
verbracht, ehe er 1941 wieder nach London übersiedeln durfte.
Dort war er dann im deutschen Kulturbund tätig, lernte 1943
Henry Moore kennen und besuchte ihn mehrmals in dessen Atelier.
1946 ging er mit Emigranten wie Theo Balden, Heinz Worner u. a.
in den Osten Deutschlands, um hier neue gesellschaftliche
Verhältnisse aufzubauen. Doch seine von der progressiven Kunst
geprägten Haltungen bereiteten ihm, wie anderen Künstlern auch,
häufig Probleme mit einer volkstümelnden, auf vordergründige
Pathetik eingestellten Kulturpolitik. Dennoch stellte er sich
diesen Schwierigkeiten - gemeinsam mit Künstlerkollegen wie
Horst Strempel, Arno Mohr, Fritz Cremer, Gustav Seitz, Waldemar
Grzimek, Theo Balden oder Herbert Sandberg und versuchte sie zu
überwinden. Er beteiligte sich an Wandbildaufträgen für
Hennigsdorf, 1949 und Ballenstedt, 1950, die seinerzeit heftige
Diskussionen auslösten, ebenso an der Gestaltung der Nationalen
Mahn- und Gedenkstätten in Buchenwald, 1958 mit drei
Reliefstelen und in Sachsenhausen, 1 959 mit der
überlebensgroßen Figurengruppe »Befreiung«. Immer wieder setzte
sich René Graetz nachdrücklich für einen freien Umgang mit der
Kunst ein, was gerade für die jüngeren Bildhauer, wie etwa
Friedrich B. Henkel, wichtig und ermutigend war.
Es waren nicht nur diese gesellschaftlichen Konflikte, auch die
eigenen künstlerischen Fragen haben dazu geführt, daß René
Graetz immer ein Suchender geblieben ist. »Eine Form«, so hat er
einmal notiert, »muß innere Spannung haben. Spannung ist nicht
nur eine physische Eigenschaft - viel hängt vom geistigen
Standpunkt ab.« Zeitlebens hat er um diese Spannungen und
Standpunkte gerungen - künstlerisch, menschlich und
weltanschaulich. Seine zweite Frau, die großartige irische
Zeichnerin Elizabeth Shaw, erinnerte sich aus Anlaß der
Gedächtnisausstellung für René Graetz 1978 in der
Nationalgalerie: »Wenn ich an René denke, denke ich an sein
lebhaftes Temperament, seinen Charme, seine Großmut - und vor
allem an die vielen Konflikte, an denen er beteiligt war und die
in ihm waren.« |