Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, daß Sie kurz bevor der Weihnachtsstreß Sie
ergreift, heut noch einmal Muße finden, sich die Bilder von
Erich Seidel anzusehen, Bilder, die erst zum zweiten Mal in
Berlin ausgestellt werden, 1977 waren sie erstmalig in der
Galerie Dorsch zu sehen. Von der Vernissage dieser Ausstellung
stammt auch das Foto, daß wir in der Einladung vom Erich Seidel
gedruckt haben.
Wir können Erich Seidel heute nicht mehr begrüßen, er wäre in
diesem Jahr 110 Jahre alt geworden, ich begrüße aber sehr
herzlich den Sohn, Herrn Jörn Seidel aus Freiburg und die Enkel,
Herrn Mischa Seidel aus Dresden und Herrn Sascha Seidel aus
Berlin.
Als ich vor vierzig Jahren , ja so lange ist schon es her, mit
dem Studium begann, lernte ich die zweibändige Geschichte der
Kunst und Architektur von Richard Hamann kennen.
Ich glaube viele Generationen von Kunsthistorikern sind an ihr
geschult worden.
40 Jahre später nun stelle ich die Bilder von Erich Seidel aus,
den Richard Hamann bei der Ausführung eines Auftrages für ein
Altar-Tryptichon in der Kirche in Auerbach im Erzgebirge
kennenlernte und entdeckte. Er holte ihn an das Kunsthistorische
Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, um die
Kunstgeschichtsstudenten in die Gesetzmäßigkeiten
bildkünstlerischen Gestaltens einzuführen.
Ich habe Erich Seidel erst zu Beginn dieses Jahres entdeckt. So
komme ich noch einmal direkt mit dem Wirken des großen
Kunsthistorikers Richard Hamann in Berührung, und ich muß sagen
auf eine sehr angenehme Weise.
Geboren ist Erich Seidel 1895 in Plauen im Vogtland geboren.
Studiert hat er am Lehrerseminar in Plauen . Anschließend war er
Soldat im ersten Weltkrieg und ab 1918 unterrichtete er an einer
Hauptschule in Rabenau bei Dresden. Erst ab 1945, fünfzigjährig
also schon, war freiberuflich als Maler tätig und nahm
regelmäßig an verschiedenen Kunstausstellungen teil.
1943 hatte er die erste Einzelausstellung in der Dresdner
Galerie Kühl, die einzige private Galerie übrigens, die die Zeit
der DDR überlebt hat, 1950 stellte ihn die Galerie Henning in
Halle an der Saale aus, eine Galerie, die sich in den vierziger
und fünfziger Jahren der klassischen Moderne verpflichtet fühlte
in einer Zeit, da in der DDR gerade der sozialistische Realismus
im Stil des Repinschen Naturalismus zum Dogma erhoben wurde. Die
Galerie Henning mußte Ende der fünfziger Jahre schließen.
Als Erich Seidel an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte,
hatte diese Debatte um den sogenannten Formalismus, unter den
auch die klassische Moderne und ihre Jünger, zu denen ich Seidel
einmal zählen möchte, subsumiert wurde, ihren Höhepunkt.
Als Erich Seidel sich in seinem Unterricht gegen die
Alleinberechtigung des sozialistischen Realismus wandte, geriet
er unter verschiedene Überwachungsmethoden, so daß er sich
entschied, sein Lehramt aufzugeben und in Richtung Westen zu
wandern, 1956 zuerst nach Oberhausen und ab 1960 nach Wallhausen
bei Konstanz am Bodensee.
Über die dortige Ausstellung aus Anlaß seines 75. Geburtstag
schrieb der Südkurier von seinem Werk als, ich zitiere,
»Malerische Träume als Dichtung von der Welt und den Menschen«.
Die alltägliche Welt und die alltäglichen Begegnungen mit den
Menschen waren in der Tat, die Sujets der Bilder von Seidel,
große Themen, oder tiefschürfende Gedanken waren seine Dinge
nicht, eher tief empfundene Stimmungen, punktuelle oder auch
allgemeine.
Für ihn bestand die Welt aus Bildern, oder besser gesagt, er
besaß die Fähigkeit, immer und überall Bilder zu sehen. Und er
besaß eben auch die Gabe, uns diese Bilder in jener
verallgemeinernden Form zu hinterlassen, die eben Kunst
ausmacht.
Schon als Soldat hatte er bei jeder Gelegenheit gezeichnet oder
gemalt und das blieb sein Leben lang so bis zu seinem Tode.
Die Suche nach einer gültigen Form der künstlerischen
Verallgemeinerung konkreter Bilder trieb ihn voran, war schon
Mittelpunkt seiner Lehrtätigkeit in Berlin und war Thema eines
Referates zur Generalversammlung des Kunstvereins Konstanz im
Jahre 1966.
Nachdem Seidel sein Schaffen anfänglich an einer geometrischen
Ordnung, ganz im Sinne von Cézanne orientierte, akzentuiert
relativ klare Farbflächen gegenüber stellt, werden die Konturen
seiner Formen in den siebziger Jahren weicher, stimmungsvoller,
um schließlich in der reinen farblichen Impression von der Welt
aufzugehen.
Die Ausstellung gibt einen Überblick über die verschiedenen
Phasen des Schaffens von Erich Seidel, das früheste Werk ist von
1937, die »Frau mit dem roten Hut« und das späteste Werk ist aus
dem Jahr seines Todes, dem Jahr 1984, die »Wartende«.
Frühe Werke gibt es naturgemäß nicht mehr so viele, aber den
Höhepunkt des Schaffens erreichte Seidel auch tatsächlich in
seinem Alterswerk, das hier vorrangig ausgestellt ist.
Erich Seidel hatte für sich die Technik der Ölpinselzeichnung
auf Papier entdeckt, die er zu wahrer Perfektion trieb. Er
verdünnte die Ölfarbe so stark, daß sie sich schnell und leicht
vermalen ließ, trotzdem aber jene charakteristische Spezifika
des Malmittels bewahrte, den Glanz und die Lasur.
Durch die Überlagerung vieler dünner Farbschichten erzielte er
seine mehrdeutigen Färbungen, die er auf der Palette hätte nie
mischen können.
Die Bildschöpfungen werden monochrom und farbig zugleich, das
Leuchten scheint dahinter zu liegen, nicht auf der Oberfläche,
gedämpft aber sind sie allemal.
Mit seiner virtuosen Technik erzeugte er jenes diffuse Licht,
das seine Figuren nur allmählich aus dem Hintergrund treten
ließ, sie mit einem Hauch des Traumhaften umgab und die Realität
zu entschwinden scheint.
Die Entkörperlichung der Gestalten nährt nun ausschließlich den
Hang zur Verinnerlichung.
Das Spätwerk neigt zur Abstraktion, ist nur noch der Stimmung
verhaftet und bleibt dennoch mit dem Gegenstand verbunden,
vorrangig mit der menschlichen Figur, eingebunden aber oft in
die Natur.
Die Bilder von Erich Seidel erzeugen eine Weltsicht, die sich
zutiefst den menschlichen Beziehungen hingibt, den Menschen
entrückt in eine träumerische Welt, vielleicht weil ihm die
reale nicht menschlich genug schien.
Man sieht seine Bilder und die Sehnsucht nach Harmonie macht
sich breit.
Mit Verblüffung betrachtet man seine scheinbar schnell
hingehauchten Pinselstriche und mit Abstand betrachtet,
erschließt sich uns eine märchenhafte Welt aus Mensch und Natur,
aus der Harmonie beider.
Einen »Grandseigneur« der Malerei nannte ihn der »Südkurier«
anläßlich seiner Ausstellung in Überlingen am Bodensee 1975.
Das Werk Erich Seidels wuchs Seidels Werk beständig und unbeirrt
aller aktuellen Strömungen des Zeitgeistes, geschult an den
Traditionen der klassischen Moderne. Seine Bekanntheit aber
konzentrierte sich auf den südliche Raum. Insofern freue ich
mich, daß ich Ihnen nun dieses Werk in Berlin präsentieren kann.
Prof. Dr. Werner Schumowski, der in den 50er Jahren bei Erich
Seidel an der Humboldt-Universität zu Berlin studierte, später
der anerkannte Spezialist für das Werk Rembrandts wurde, schrieb
als Reaktion auf die Einladung zur heutigen
Ausstellungseröffnung:
»Ich wünsche dem Meister großen Erfolg und viele neue
Bewunderer.«
Ich hoffe, sehr geehrte Damen und Herren, sie werden zu diesen
neuen Bewunderern des Werkes von Erich Seidel gehören.
Ich wünschte es mir.
Dr. Wilfried Karger |