Prof.
Helmut Börsch-Supan zur Eröffnung der Ausstellung am 15. Mai 2007
"inwendig voller Figur", dieses Wort Albrecht Dürers, mit dem er das Wesen des
Künstlers aus der neuen Sicht der Renaissance benannt hat, trifft über die
Spanne eines halben Jahrtausends hinweg auf Joachim Dunkel in besonderem Maße zu
und bezeichnet damit seinen Platz in einer heute nicht mehr selbstverständlichen
Traditionslinie. Das schöne Einladungsfaltblatt mit dem Blick in das
beeindruckende Schaulager in Berlin-Wilmersdorf veranschaulicht, wie auch dieses
inwendig voller Figur ist.
Dürers Wort zielt auf den Zusammenhang der Innenwelt des künstlerischen
Individuums mit der Außenwelt, die wir genießen, bewundern, die uns aber auch
bedroht und bedrängt. Dürer sah Gott, den Schöpfer der Welt, als einen Künstler
und so war der schöpferisch tätige Mensch in höherem Sinn das Ebenbild Gottes
als der Nichtkünstler.
Wie Dürer dachte Joachim Dunkel natürlich nicht. Seine Werke sind aus seinem
Inneren heraus geboren, sie können jedoch nicht mehr dem Anspruch gerecht
werden, eine als Kunstwerk verstandene Welt zu spiegeln. Er hat gesehen, in sich
aufgenommen, das Beobachtete aber nicht einfach abgebildet, sondern in oft
schmerzhaften Prozessen in sich verarbeitet und in die Welt gesetzt. Man muß
sich vergegenwärtigen, in welche Welt er hineingeboren wurde: Jahrgang 1925,
also Kriegsteilnehmer, Berliner, der in dieser zerstörten Stadt 1946 mit der
Ausbildung zum Künstler beginnen konnte, ein Hochbegabter, was früh gesehen und
gewürdigt wurde, aber einer, der seine Kraft von Anfang an in sein Werk statt in
den zielgerichteten Ablauf einer Karriere steckte. Er sah zu scharf, um die
Katastrophe des 20. Jahrhunderts einfach verdrängen zu können.
Figur, das zentrale Thema der Dunkel'schen Kunst, ist mehr als menschliche
Gestalt, woran wir heute zuerst denken, wenn wir im Bereich der Skulptur von
Figur sprechen, oder gar in dem gegenwärtig so wichtigen Bereich der Kosmetik
oder des Outfits. Inwendig voller Figur und Outfit, welcher Kontrast.
Es gibt geometrische Figuren, es gibt Redefiguren, es gibt musikalische Figuren.
Figur ist immer geordnete Form, die aus dem Chaos, dem Beliebigen, Zufälligen
sich herauskristallisiert. Figur ist immer begrenzt. Inwendig voller Figur heißt
also auch vom Drang beseelt, dem Chaos etwas Geordnetes, Gestaltetes abzuringen.
Das hat Dunkel, seit er sich als Künstler fühlte, sein Leben lang gemacht. Es
scheint mir die Triebkraft seines Schaffens gewesen zu sein, an dessen Ende aber
nie - und das unterscheidet ihn von Dürer - etwas Vollendetes, Makelloses,
Vollkommenes steht. Seine Werke sind immer Aufbruch in einem doppelten Sinn:
Aufbruch als Anfang eines Prozesses, der zu keinem definitiven Ende gelangt, und
Aufbruch als Durchbrechen einer geschlossenen Oberfläche, das Abweisen von allem
Oberflächlichen. Etwas von innen Kommendes arbeitet sich wie eine Pflanze nach
oben. Mir fällt dazu das Bild der Grasbüschel ein, die eine Asphaltdecke
durchbrechen.
Dunkel hat in seinen Arbeiten stets alles Glatte, von dem ein haptischer Reiz
ausgeht, vermieden. Mit dieser Haltung entfernte er sich von seinem
erfolgsgewohnten Lehrer Bernhard Heiliger. Keine der Figuren Dunkels ist das,
was man einen Handschmeichler nennt, obgleich die gestaltende Hand in den
Skulpturen wie in den Zeichnungen stets gegenwärtig ist. Seine Figuren scheinen
zu vermitteln: "Rühr mich nicht an!" Sie sind verletzt und drohen, den zu
verletzen, der sie anrührt.
Wer Joachim Dunkel persönlich gekannt hat, wird nicht umhin können, sich bei dem
Anlaß dieser Ausstellung, dem fünften Jahrestag seines Todes am 10. Juni 2002,
an die Eigentümlichkeit seines Wesens, das so fern von jeder Künstlerattitude
war, zu erinnern und seine Werke in eine Beziehung zu ihrem Schöpfer zu setzen.
Mir erschien er immer als jemand, der friert, sich fröstelnd in sich
zurückzieht, dann aber doch durch Bewegung und Tätigkeit sich zu erwärmen sucht.
Joachim Dunkel war dünnhäutig, also empfindlich, auch gegen Lob, das die Sache
nicht genau traf, leicht verletzlich, aber er legte sich einen schützenden
Mantel aus Geist, Witz, ja Sarkasmus zu.
Man fand im Umgang mit ihm schnell zu jenem scherzenden Ton, bei dem man das
Eigentliche nicht aussprechen mußte, sich darin aber doch umso besser verstand.
Wie Schlittschuhläufer drehte man Pirouetten auf einer nicht allzu dicken
Eisschicht. Unter dem Leichten jedoch schwang stets eine tiefe Trauer. Sie ist
in allen seinen Figuren zu spüren. Ich kenne keine, die selbstbewußt posiert,
keine, die unversehrt ist. Dieses Lebensgefühl äußert sich in der Handschrift,
die zwar von eminentem anatomischen Wissen gesteuert ist, sich aber immer wieder
befragt, das soeben Gesetzte verändert, ja auszustreichen scheint, und nicht
minder deutlich ist es in den ikonographischen Inhalten zu fassen. Die
Kreuzigungen etwa sind weder Lösungen von Formproblemen noch theologische
Aussagen; sie sind Darstellung von zutiefst empörenden barbarischen Handlungen.
Analog ist das Thema des Trojanischen Krieges behandelt und mit ihm sind
natürlich die Kriege unserer so fortgeschrittenen Zeit gemeint. Als bildender
war Dunkel auch ein gebildeter Künstler, doch mehr mit tiefem als mit horizontal
schweifendem Blick.
Dankbar begrüße ich es, daß diese Gedenkausstellung in der Galerie am
Gendarmenmarkt, also am schönsten Platz Berlins in der Mitte der Stadt, gezeigt
wird. Hier läßt sich deutlicher als in den entfernteren Bezirken die Tradition
miterleben, in der Joachim Dunkel steht. Sie reicht in Berlin bis Schlüter
zurück, dessen abgeschlagene Barbarenköpfe im Zeughaushof daran erinnern, welche
Wunden Kriege schon immer verursacht haben. Die beiden Dome und Schinkels
Schauspielhaus bieten Beispiele Berliner Bildhauerkunst des 18. und 19.
Jahrhunderts. Nicht weit von hier steht das nun hoffentlich bald in seinem Wert
erkannte Wohnhaus Schadows, dessen Quadriga auf dem Brandenburger Tor vor allem
durch meist geschmacklose Werbung weltbekannt ist. Es wäre gut, wenn man sich in
Berlin, mehr als es geschieht, des gewaltigen Stromes der Kunstgeschichte
erinnern würde, dessen Quellen weiter zurückliegen, als man gemeinhin denkt.
Hier wäre für die Museen viel zu tun. Joachim Dunkel ist ein Teil dieses
Stromes.
Der Galerie am Gendarmenmarkt ist dafür zu danken, daß sie diese Ausstellung
zeigt. Was wäre das Berliner Kunstleben ohne die vielen Nebenstellen, die
privaten Galerien und die Kunstämter in den Bezirken. Die großen Häuser sind
darauf aus, durch spektakuläre Großveranstaltungen Besuchermassen anzulocken.
Sie sind längst Filialbetriebe der Tourismusindustrie geworden. Was könnte man
lernen, wenn man in einer umfassenden Ausstellung, etwa im Gropiusbau, der Frage
nachgehen würde, was auf dem Gebiet der Skulptur in Ost- und West-Berlin nach
1945 geleistet und was versäumt worden ist und bis in die Gegenwart hinein in
Berlin geleistet und versäumt wird. Es würde sich eine stark zerklüftete
Kunstlandschaft darbieten, und Joachim Dunkel wäre ein Gipfel dieses
Gebirgsmassivs. Verhältnismäßig Wenige nur sind es, die wissen, wie bedeutend er
als Künstler ist, wie hoch er viele überragt, die nur auf dem Markt ihn
überflügeln.
Sein milder Sarkasmus, mit dem er den Kunstbetrieb als Bestandteil allgemeinerer
Absurditäten kommentierte, hatte nicht zuletzt in der Erkenntnis dieser
Verhältnisse seine Ursache. Wir leben, was das kulturelle Bewußtsein angeht, in
einem Winter. Das erklärt mir im Nachhinein sein Frieren, und ich hege große
Hochachtung vor denen, die sich darum bemühen, daß er überwintert, in erster
Linie vor Maria Dunkel, ohne die er wohl schon weit aufs Eis hinaus geschoben
wäre. Sie leistet diese Gedenkarbeit mit bezwingender Fröhlichkeit. Wir sollten
ihr dabei helfen. |